Vorstellung des Friedensgutachtens 2006 am 1. Juni 2006 vor der Bundespressekonferenz in Berlin
von Reinhard Mutz, IFSH
Presseerklärung
Friedensgutachten.de
Wir möchten Sie bekannt machen mit dem Jahresgutachten 2006 der wissenschaftlichen Institute für Friedens- und Konfliktforschung in der Bundesrepublik. Es ist das zwanzigste Friedensgutachten. Eines der Probleme, mit dem es sich zu befassen hat – vielleicht das ernsteste – versetzt uns geradewegs zurück in die achtziger Jahre und in die Ära des Kalten Krieges: Nukleare Abschreckung und Atomkriegsszenarien kehren in die Politikplanung zurück, eine Gefahr, der sich die Öffentlichkeit nicht hinreichend bewusst ist.
Da sind zunächst die Ambitionen Irans. Manche Analyse erweckt den Eindruck, es gäbe letztlich nur zwei Lösungen: entweder sich mit einem Kernwaffenstaat am Persischen Golf abfinden oder diese Möglichkeit militärisch verhindern. Wir halten beides für inakzeptabel. Eine Atommacht Iran könnte benachbarte Staaten zur Nachahmung verleiten, mit den Drohungen gegen Israel Ernst machen und der Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen Tür und Tor öffnen. Hingegen würde ein Krieg gegen Iran das Debakel der Irak-Invasion an politischer Sprengkraft noch in den Schatten stellen.
Welche Chancen hat eine diplomatische Lösung? Die zivile Nutzung von Kernenergie ließe sich Teheran nur unter Bruch des Völkerrechts verwehren. Um den militärischen Missbrauch auszuschließen, gibt es diverse technische Vorkehrungen. Alle erfordern jedoch die Kooperationsbereitschaft der iranischen Führung. Die Frage ist, welchen politischen Preis sie dafür verlangt. Fest steht, dass es keine europäischen, sondern amerikanische Gegenleistungen sind, die sie erwartet. Teheran kennt seinen Platz auf der „Achse des Bösen“. Was das bedeuten kann, illustriert das Beispiel Irak. Ehe sich nicht iranische und amerikanische Unterhändler der Sache direkt annehmen, stehen die Aussichten für eine friedliche Beilegung des Atomkonflikts schlecht.
Viele Vorwürfe an die amerikanische Administration – und das ist die Kehrseite des Nuklearproblems – treffen leider zu. Washington beansprucht für sich, Kernwaffen nicht nur zu besitzen und weiterzuentwickeln, sondern gegebenenfalls zu nutzen, politisch als Droh- und Abschreckungsinstrument, operativ als Einsatzmittel. Sie sind integraler Bestandteil der amtlichen Militärstrategie.
Hier werden auch europäische und deutsche Sicherheitsbelange berührt. Ebenso entschieden wie sie sich für eine Verständigungslösung mit Iran einsetzt, sollte die Bundesregierung den Atommächten in Erinnerung rufen, dass der Nichtverbreitungsvertrag ihnen Abrüstungspflichten auferlegt. In ihre eigene Zuständigkeit fällt, den Anachronismus taktischer Atomsprengköpfe auf deutschem Territorium zu beenden. Des Weiteren sollte sie darauf bestehen, dass bei NATO-Operationen außerhalb des Bündnisgebiets, an denen die Bundesrepublik teilnimmt, keine Kernwaffen zum Einsatz kommen werden.
Das Titelfoto des Friedensgutachtens will an das Flüchtlingsdrama vor den spanischen Exklaven in Marokko erinnern, dessen Aktualität rund um die Kanarischen Inseln anhält. In zunehmendem Umfang zahlen politisch Verfolgte und ökonomisch Perspektivlose für den Versuch, die Außengrenzen der EU zu überwinden, mit ihrem Leben.
Europa kann nicht allen Einwanderungswilligen umstandslos Einlass gewähren. Aber es kann auch nicht länger die immer perfektere Grenzüberwachung und die zügige Ausweisung illegal Eingereister als gemeinsame Migrationspolitik ausgeben. Der Europa-Afrika-Pakt der EUKommission soll nun wirtschaftliche und Entwicklungszusammenarbeit, Sicherheitspolitik und Migrationskontrolle zu einem kohärenten Konzept verknüpfen. Die Initiative weist einen richtigen Weg, aber vorerst steht sie nur auf dem Papier. Die EU hat sich die Armutsbekämpfung in Afrika als vorrangiges Ziel gesetzt. Auch das begrüßen wir. Aber die Agrar-, Zollund Handelspolitik der EU unterminiert dieses Vorhaben, indem sie die afrikanischen Volkswirtschaften schwächt.
Die euro-afrikanische Partnerschaftsrhetorik ist so viel wert wie sie in Notlagen konkrete Resultate zeigt. In der westsudanesischen Provinz Darfur und im benachbarten Tschad vegetieren mehr als zwei Millionen Bürgerkriegsflüchtlinge vor sich hin, abgeschnitten von ihren Nahrungsquellen und bedroht von marodierender Gewalt. Es fehlt an Personal und Transportmitteln zu ihrer Versorgung, es fehlt an bewaffnetem Schutz für die Vertreibungsopfer und ihre Helfer, und die Kassen des Welternährungsprogramms sind leer.
Das gerade geschlossene Abkommen von Abuja wird erst noch beweisen müssen, ob es das Prädikat eines Friedensvertrags verdient. Immerhin verpflichtet es die Regierung in Khartum und die größte der Rebellenorganisationen auf dieselben Waffenstillstandsbedingungen. Damit hat es die Mitglieder des UN-Sicherheitsrats einen Schritt zusammengeführt. Die Entlastung der überforderten afrikanischen Schutztruppe durch personelle Verstärkung, Ausrüstungshilfe und logistische Unterstützung muss folgen. Darfur braucht Hilfe, und es braucht sie jetzt: Dieser dramatische Appell UN-Generalsekretär Annans richtet sich auch an die Adresse Europas.
Der Kongo-Krieg war der opferreichste des Kontinents, im Ostteil des Landes dauert er an. Die bevorstehenden Präsidentschafts- und Parlamentswahlen sollen die nächste Etappe des politischen Wiederaufbaus einläuten – ein Prozess mit ungewissem Ausgang. Ob er gelingt oder scheitert, wird Wirkungen weit über die Landesgrenzen hinaus entfalten.
Die Bundesrepublik hat sich schon auf zweifelhaftere Militärmissionen eingelassen als internationalen Wahlbeobachtern ein sichereres Arbeitsumfeld zu schaffen. Anhänger und Kritiker des deutschen Kongo-Einsatzes streiten auf sehr verschiedenen Ebenen. Ihre Diskussionsbeiträge lassen erkennen, wie schmal die Erfahrungs- und Kenntnisgrundlagen über Erfolgsaussichten externer Krisenintervention noch sind, wie klärungsbedürftig die Kriterien einer angemessenen Mittelwahl und wie disparat die Motive für die anstehende Entscheidung.
Mit ihrem Wunsch, eine breite gesellschaftliche Debatte über die Aufgaben der Bundeswehr zu beginnen, sprechen uns der Bundespräsident und der Verteidigungsminister aus dem Herzen. Das angekündigte Sicherheitsweißbuch der Bundesregierung könnte den Anstoß geben. Was bisher aus dem Verteidigungsministerium dazu verlautete, stimmt eher nachdenklich.
Beispiel Verteidigung. Sie sei neu zu definieren, so heißt es. Kaum ein anderer Begriff der politischen Sprache hat einen so eindeutigen Sinngehalt. Verteidigung bedeutet Abwehr eines bewaffneten Angriffs, mehr nicht. Neue Wortschöpfungen wie „ausgreifende“ oder „vorsorgliche Verteidigung“ suggerieren, dass Verteidigung auch ihr Gegenteil, den Angriff, einschließen kann. Angriffskriege sind jedoch verboten, sowohl nach dem Völkerrecht wie nach dem Grundgesetz.
Oder die offenbar erwogene Bindung von Auslandseinsätzen der Bundeswehr an eine vorherige
Prüfung der nationalen Interessenlage. Gewiss hat jede Regierung die Interessen ihres
Landes nach außen zu vertreten – mit politischen, diplomatischen, ökonomischen Mitteln.
Auch mit militärischen, auch durch Gewaltanwendung? Wenn der Verteidigungsminister davon
spricht, Interessen Deutschlands könnten einen Bundeswehreinsatz rechtfertigen, so besteht
Anlass zur Sorge, dass das Interessenprinzip schleichend die Bindung an Recht und Gesetz
verdrängt.
Da erscheint es kaum zufällig, dass auch das Grundgesetz selbst zur Disposition steht. Weil
ein massiver Terroranschlag einem militärischen Angriff gleichkomme, so die Befürworter
der Verfassungsänderung, soll die Bundeswehr künftig auch im Inneren eingesetzt werden
können. Überzeugend wäre das Argument dann, wenn Streitkräfte mehr oder bessere Fähigkeiten
aufwiesen als Polizei und Justiz, um politisch motivierter Schwerkriminalität entgegenzutreten.
Das Gegenteil ist der Fall. Ebenso wenig leuchtet ein, warum der Auftrag der
Bundeswehr erfordert, die Mitwirkungsrechte des Bundestages an Einsatzentscheidungen zu
beschneiden.
Unsere Folgerungen, zu drei Kernempfehlungen zusammengefasst, lauten: Die Bundesregierung
sollte
im Mittleren Osten sich jeder gewaltsamen Lösung des Streits mit Iran widersetzen und den Dialog mit der neuen palästinensischen Regierung aufnehmen,
ihr friedens- und entwicklungspolitisches Engagement, insbesondere in Afrika, ausbauen und sich auf die Instrumente ziviler Krisenprävention konzentrieren,
die Bundeswehr ausschließlich zur Verteidigung und Friedenssicherung einsetzen, die Rechte des Parlaments nicht einschränken und das Grundgesetz unangetastet lassen.
Herausgegeben von Reinhard Mutz, Bruno Schoch, Corinna Hauswedell, Jochen Hippler und Ulrich Ratsch