14 Juni 2004

Friedensgutachten 2004

Institut für Entwicklung und Frieden der Universität Duisburg-Essen Friedensgutachten 2004 herausgegeben von Christoph Weller, Ulrich Ratsch, Reinhard Mutz, Bruno Schoch und Corinna Hauswedell LIT Verlag Münster, 2004, 326 S., ISBN 3-8258-7729-9

Frieden zu schaffen ist schwieriger als Krieg zu führen

Vorstellung des Friedensgutachtens 2004 am 15. Juni 2004 vor der Bundespressekonferenz, Berlin Christoph Weller, INEF

Frieden zu schaffen ist schwieriger als Krieg zu führen. Diese bittere Lehre des vergangenen Jahres war Anlass für uns, Friedensstrategien sowie verschiedene Friedensprozesse und ihre Krisen in den Mittelpunkt des Friedensgutachtens 2004 zu stellen.

Angesichts der jüngsten Verwerfungen durch Kriegführung und Gewaltkonflikte scheint uns eine neue Aufmerksamkeit für vorsorgende und langfristig angelegte Friedenspolitik dringend geboten.
In unseren Analysen setzen wir uns kritisch auseinander mit jenen vielbeschworenen Bedrohungen, welche die derzeitige sicherheitspolitische Debatte bestimmen: Dem Terrorismus, Massenvernichtungswaffen und dem Staatszerfall widmen sich die ersten drei Beiträge des diesjährigen Friedensgutachtens.

Die drei genannten Gefahren sind jedoch nur ein Teil der heutigen globalen Bedrohungen. Will man wirkungsvolle Friedensstrategien entwickeln, muss der Blick geöffnet werden für alle Gefährdungen, die das Leben und Wohlergehen der Menschen bedrohen: Hunger und Armut, wirtschaftliche Ungleichheit und politische Ungerechtigkeit, konfliktverschärfende Gewaltökonomien, gewaltsame Vertreibungen, Epidemien, Ressourcenknappheit sowie die vielfältigen ökologischen Gefährdungen. Diesen kann die Staatengemeinschaft weder mit Krieg und Aufrüstung, noch mit neuen militärlastigen Sicherheitsstrategien zu Leibe rücken. Nötig sind vielmehr gemeinsame Anstrengungen für eine gerechtere Welt, die Stärkung des Rechts als wirkungsvolle Friedensstrategie, die Zurückweisung von Gewalt als Mittel der Politik und die Umsetzung nachhaltiger Friedensprozesse und -strategien. Diesen Themen widmen sich verschiedene Beiträge des diesjährigen Friedensgutachtens, etwa zum Konzept "Human Security", zu Geschlechterperspektiven in der Friedenskonsolidierung, zur Demobilisierung von Kindersoldaten oder der Friedensförderung durch das Völkerrecht.

Mit dem Irak-Krieg hat die Vormacht des Westens das Völkerrecht grob missachtet und die Ressentiments in der islamischen Welt auf schreckliche Weise bestärkt. Die gesamte Region ist heute noch weniger stabil als vor dem Irak-Krieg, auch wegen der prekären Lage in Palästina.

Der Bruch der Genfer Konventionen durch US-amerikanisches Militärpersonal im Irak hat dem Ansinnen vollends die Berechtigung entzogen, Demokratie mit militärischen Mitteln ins Werk setzen zu wollen. Der militärisch relativ leicht erzielte Sieg im Irak droht in eine schwere politisch-moralische Niederlage des Westens umzuschlagen.

Der „Krieg gegen den Terrorismus“ und gegen die „Achse des Bösen“ hat die Welt nicht friedlicher, sondern unsicherer gemacht.

Nach langwierigen Verhandlungen ist es dem UN-Sicherheitsrat nun gelungen, eine Irak-Resolution zu verabschieden. Nur unter dem Dach der UNO können Maßnahmen zur Deeskalation und Aufrechterhaltung einer im Irak auf absehbare Zeit notwendigen Sicherheitsgarantie glaubwürdig legitimiert und organisiert werden. Zugleich darf nicht in Vergessenheit geraten, dass durch den Irak-Krieg die Regeln des UN-Systems missachtet wurden.

Die Reform des UN-Sicherheitsrats ist überfällig. Die entsprechende Initiative des Europarats verdient breite Unterstützung. In Europa sind sich Gesellschaften und öffentliche Meinung weitgehend einig in der Kritik an der Kriegsstrategie der Neokonservativen in Washington. Die Europäer vertrauen stattdessen weiterhin auf soft power: auf Diplomatie, ökonomische Anreize, nachbarschaftliche Kooperation und Rüstungskontrolle. Die dominante Ordnungsvorstellung der Europäer bleibt die fortschreitende Verrechtlichung der internationalen Politik. Und dieses Ziel bleibt richtig, auch in Zeiten, in denen Mächtige das Recht mit Füßen treten. Jede glaubwürdige Friedenspolitik muss durch ihr Vorgehen und die Wahl ihrer Mittel deutlich machen, worauf sie zielt.
Missachtet sie Menschenrechte, Völkerrecht und humanitäre Grundregeln, wird damit nicht nur ihr Erfolg in Frage gestellt. Zugleich beschädigen die so handelnden Staaten die zu schützende Ordnung.
Es gibt einen unstrittigen und nicht verhandelbaren Kern von Menschenrechten, auch beim humanitären Völkerrecht. Wo es abweichende Interpretationen gibt, ist zuallererst Verfahrenssicherheit und Verfahrensgerechtigkeit erforderlich. Die Einsetzung des Internationalen Strafgerichtshofs trägt dieser Einsicht Rechnung. Die USA müssen nach den Vorgängen im Irak erst Recht unter Druck gesetzt werden, ihre Ablehnung des Internationalen Strafgerichtshofs aufzugeben. Allerdings zeichnen sich auch die neue europäische Sicherheitsstrategie und die entsprechenden Passagen des Verfassungsentwurfes der EU durch eine militärpolitische Engführung aus: So wird Sicherheit von der EU als Voraussetzung für Entwicklung definiert, während die umgekehrte Blickrichtung unterbelichtet bleibt: Zentrale Ausgangspunkte für mehr Sicherheit sind aber die sozialen, ökonomischen und rechtlichen Entwicklungsprozesse.

Das neue Sicherheitskonzept der EU verwischt zudem die Trennung zwischen zivilen und militärischen Instrumenten in der Krisenprävention. Vielmehr findet de facto eine Prioritätensetzung zugunsten militärischer Ressourcen und Kapazitäten statt; internationale Abrüstung gehört nicht zum strategischen Zielkatalog der EU.
Diese Entwicklungen gehen in die falsche Richtung. Mit dem jetzt eingeschlagenen Weg steht die Europäische Union in der Gefahr, sich vom Modell einer Zivilmacht zu entfernen. Wir empfehlen den Verantwortlichen, statt sich bei den Details der ESVP im Gestrüpp von Industriekonkurrenz und nationalen Eigeninteressen zu verheddern, mehr auf die Fortentwicklung der GASP und die Imperative der Entwicklungspolitik zu achten. Die EU-Außenpolitik sollte sich auf ihre Stärken konzentrieren: wirtschaftliche Integration, Diplomatie, zivile Krisenprävention und Konfliktbearbeitung. Hier gibt es hoffnungsvolle Ansätze und neue Instrumente: etwa bei der Friedenskonsolidierung im Rahmen der internationalen Polizeimissionen auf dem Balkan. Wirtschaftsunternehmen müssen in Friedensprozesse eingebunden werden, Frühwarn-Instrumente müssen verbessert werden, zivil-militärische Kooperation bei Peace-keeping-Missionen muss neu justiert werden.

Auch die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik bewegt sich gegenwärtig in einem Zwiespalt zwischen strategischer Vernunft und militärischem Ehrgeiz: Hier das entschiedene Nein zum Irak-Abenteuer der Bündnisvormacht, dort die beflissene Anpassung der Verteidigungspolitischen Richtlinien an die konzeptionellen Vorgaben der Allianz. Zu weltweiter Kriegführung fähige deutsche Streitkräfte, wie sie die Struktur- und Ausstattungsplanung des Verteidigungsministeriums vorsieht, sprengen den Verfassungsauftrag der Bundeswehr. Und sie beruhen auch auf keiner sicherheitspolitisch überzeugenden Bedarfsanalyse. Unseres Erachtens sollte sich die deutsche Seite stattdessen verstärkt darum bemühen, Streitkräftekontingente der EU für eine mobile und rasch einsetzbare Friedenstruppe bereitzustellen, die vom UN-Generalsekretär angefordert werden kann. Im Nahost-Konflikt ist ein verstärktes Engagement der Europäischen Union gefordert. Der Abzug Israels muss als verbindlich vereinbarte und geordnete Übergabe der Sicherheitskompetenzen und der Infrastruktur der Siedlungen an die Palästinensische Autorität erfolgen. Denn nur wenn im Gazastreifen ein Gemeinwesen entsteht, das selbst für Recht und Ordnung sorgen und Angriffe gegen Israel unterbinden kann, eröffnet sich die Chance, den Zirkel von Terror und Gegenterror zu durchbrechen und die von der Road Map anvisierte Zweistaatlichkeit wieder auf die Tagesordnung zu setzen. Die im Herbst letzten Jahres entwickelte Genfer Initiative verdient eine aktive Unterstützung seitens der EU.

Internationale Gewaltprävention bleibt häufig weit hinter den in sie gesetzten Erwartungen zurück. Eine der Ursachen hierfür liegt in der mangelnden Koordination. Wegen unterschiedlicher Interessen und Strategien lassen sich Staaten nur schwer auf ein gemeinsames Vorgehen festlegen. Staatliche Maßnahmen sind nur schlecht oder gar nicht mit den Aktivitäten von Nichtregierungsorganisationen verzahnt. Selbst zwischen den Ministerien eines Staates kann es Koordinationsprobleme geben. Deshalb begrüßen wir, dass die Bundesregierung im Mai diesen Jahres einen Aktionsplan "Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung" verabschiedet hat. Diesem Schritt in die richtige Richtung müssen weitere folgen. Um zivile Krisenprävention substanziell zu stärken, muss der Bundestag zusätzliche Haushaltsmittel hierfür bereitstellen. Eine große Schwäche des Regierungsdokuments liegt darin, dass seine 161 Aktionen vornehmlich daran ausgerichtet zu sein scheinen, keine Kosten zu verursachen.

Wer ernsthafte Krisenprävention betreiben will, dem muss sie auch bei den Haushaltstiteln etwas wert sein. Strukturelle Konfliktursachen abzubauen ist der langfristig wirksamste Beitrag zur Verbesserung globaler Sicherheit. Dies macht weder militärische Maßnahmen als ultima ratio in akuten Notlagen überflüssig, noch die notwendige Vorsorge obsolet, um terroristische Bedrohungen abzuwehren und die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen zu unterbinden.

Eine umfassende Friedensstrategie orientiert sich an Sicherheit und Wohlergehen aller Menschen und leitet zum Handeln an, bevor Ordnungen zerfallen, Faustrecht, Selbstjustiz und Vergeltung die Oberhand gewinnen oder Menschen ihrer Lebensgrundlagen beraubt werden. Mehr denn je ist es heute an der Zeit, eine solche Umorientierung für eine internationale Friedenspolitik voranzutreiben.

Zeitgleich mit dem Friedensgutachten erscheint in diesem Jahr erstmals eine Handreichung "Friedensgutachten 2004 – didaktisch". Dieses 24-seitige Heft wendet sich an Multiplikatoren der Jugend- und Erwachsenenbildung, vor allem an Lehrerinnen und Lehrer. Es wurde in Zusammenarbeit mit Autorinnen und Autoren sowie den Herausgebern des Friedensgutachtens von Günther Gugel und Uli Jäger vom Institut für Friedenspädagogik Tübingen erstellt und ist sowohl als Broschüre wie auch im Internet verfügbar (www.friedenspaedagogik.de/themen/aktuell/top_aktu.htm).

Wir haben gestern das Friedensgutachten 2004 dem Präsidenten des Deutschen Bundestages, Wolfgang Thierse, überreicht. Er wird es dem Verteidigungsausschuss, dem Auswärtigen Ausschuss und dem Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zur weiteren Diskussion empfehlen. Es ist das Interesse unserer Forschungsinstitute, auf diesem Wege auch den Dialog mit dem Parlament über Friedenspolitik und Friedensstrategien zu intensivieren.

Institut für Entwicklung und Frieden (INEF) Universität Duisburg-Essen / Campus Duisburg www.inef.de www.friedensgutachten.de