Vorstellung des Friedensgutachtens am 24. Mai 2011 in Berlin von Margret Johannsen, IFSH
Presseerklärung 2011 Friedensgutachten.de
Friedensforscher fordern: Das Friedensprojekt Europa neu beleben. Solidarität mit den Nachbarn üben.
Der arabische Frühling ist eine historische Zäsur, vergleichbar mit dem Fall der Berliner Mauer. Er hat den Politikbetrieb und auch Regionalexperten überrascht. Wann und wo genau ein Funke den Sprengstoff entzündet, der sich in Jahrzehnten autokratischer Herrschaft und sozialer Stagnation ansammelt, ist nicht vorhersagbar. Aber wir warnen seit Jahren vor der trügerischen Stabilität, vor der Erstarrung, die den Nährboden dschihadistischer Gewaltbereitschaft abgab. Bei der Vorstellung des Friedensgutachtens 2003 haben wir hier gesagt: „Es ist eine altem Kolonialdünkel verhaftete Legende, der Islam als solcher sei mit Demokratie nicht vereinbar. Gerade wer Krieg als legitimes Mittel für Regimewechsel und Demokratisierung ablehnt, muss die zivilen Bemühungen für die Einhaltung von Menschenrechten, Öffentlichkeit und Partizipation auch in der arabischen Welt entschieden verstärken.“ Das bleibt richtig.
Mitschuld und Schande Europas
Europa ist mitschuldig an der langen Stagnation in der arabischen Welt, gegen die sich nun die Menschen erheben. Die EU-Staaten haben sich mit politischen Tauschgeschäften, bei denen Autokraten Erdöl und Erdgas lieferten, Flüchtlinge abfingen und dafür günstige Kredite sowie Waffen erhielten, zu Komplizen repressiver Regime gemacht. Im Rahmen einer neuen Mittelmeerpolitik muss die EU ihre Agrarmärkte öffnen, damit in den südlichen Partnerländern dringend erforderliche Arbeitsplätze entstehen. Sie sollte ihr Know-how beim demokratischen Umbau vormals autokratisch regierter Staaten zur Verfügung stellen. Wir bestehen darauf: Kein Rüstungsexport in Spannungsgebiete und an Gewaltherrscher! Und wir verlangen eine andere Flüchtlingspolitik: human und mit Augenmaß. Seit Beginn des arabischen Frühlings haben 34.000 Flüchtlinge aus Nordafrika Europa erreicht, ein Flüchtling auf 15.000 EU-Bürger. Und nach Meinung von Populisten in Politik und Medien droht Europa in einer Flüchtlingsflut zu versinken – das ist nicht nur ein Irrtum. Es ist eine Schande.
Höchste Zeit für kreative Verhandlungen
Im Mittelmeer ertrinken Flüchtlinge aus Libyen. In den Städten sterben Menschen durch Bomben, Granaten und Raketen. Wir warnen vor einer unkalkulierbaren Eskalation im Libyenkrieg. Die Militärintervention zeigt von Woche zu Woche deutlicher, dass sich der Schutz der Zivilbevölkerung und die Absicht der Interventen, das Regime zu stürzen, schwer vereinbaren lassen. Der UN-Sicherheitsrat hat in seiner Resolution 1973 militärische Zwangsmittel autorisiert, um die Zivilbevölkerung zu schützen, und zugleich eine sofortige Waffenruhe im Bürgerkrieg verlangt. Daran erinnern wir und fordern, ohne Vorbedingungen über ein Ende der Gewalt zu verhandeln. Warum sollte Deutschland nicht zwischen Tripolis und Benghasi vermitteln?
Europa: Integration statt Renationalisierung und Festungspolitik
Die Militärintervention in Libyen und das Flüchtlingsdrama auf Lampedusa zeigen die Zerrissenheit der EU, die sich in der schwersten Krise seit ihrer Gründung befindet. Noch immer dominieren in Europa nationale Alleingänge. Renationalisierung und Populismus prägen auch die Euro-Krise. Effektive Bankenkontrollen und wirksame Finanzhilfen für die schwächeren Mitglieder der Union sind nötig, um den Zentrifugalkräften Einhalt zu gebieten. Ein Scheitern des Euro würde die allgemeine Entsolidarisierung verstärken, das machtpolitische Ringen um Einflusssphären wiederbeleben und die nur schwach entwickelte gemeinsame Außenpolitik endgültig begraben. Solidarität ist nicht nur eine Last: Die europäische Integration kommt allen zugute, auch den Starken. Die Bundesregierung darf Solidarität nicht zähneknirschend üben und muss in der Öffentlichkeit offensiv für das weitere Zusammenwachsen Europas eintreten.
Die Integration galt lange als die politische Errungenschaft im jahrhundertelang so kriegerischen Europa. Das muss weiter gelten – nach innen wie nach außen. Zur europäischen Identität gehört nationale, gesellschaftliche und kulturelle Vielfalt. Immigranten gegen Benachteiligte ohne Migrationshintergrund auszuspielen gefährdet den gesellschaftlichen Frieden. Die einen wie die anderen brauchen Arbeitsmarktchancen. Wir verlangen, gezielt in Bildung und Ausbildung zu investieren: in die verstärkte Förderung von Kindern mit Migrationshintergrund und eine vereinfachte Anerkennung von im Ausland erworbenen Studien- und Berufsabschlüssen. Bemühungen, ausländische Studienabsolventen zum Bleiben zu veranlassen, sind mit entwicklungspolitischen Impulsen zu verbinden, um die beruflichen Chancen in den Herkunftsländern nachhaltig zu verbessern. Festungspolitik verträgt sich nicht mit einer humanen Gesellschaft. Das hohe Gut der Freizügigkeit im Schengenraum ist zu verteidigen. Wir fordern eine Reform des Einbürgerungsrechts und eine Asylpolitik in Übereinstimmung mit der Menschenrechtscharta. Völkerrechtswidrige Praktiken der Grenzschutzbehörde Frontex müssen ein Ende haben; Frontex ist in Zusammenarbeit mit den Nachbarstaaten zu reformieren und gehört unter die Kontrolle des Europäischen Parlaments. Gegen ausländerfeindlichen Populismus und Wählerfang am rechten Rand erwarten wir mehr aufklärerische Stimmen aus Zivilgesellschaft, Wirtschaft, Kirchen, Gewerkschaften und Regierung. Das Friedensprojekt Europa ist auch heute aller Mühen wert.
Afghanistan, NATO, Bundeswehr: „Vernetzte Sicherheit“ auf den Prüfstand
Wir stellen fest, dass die Aufstandsbekämpfung (COIN) in Afghanistan zivile Anstrengungen einer militärischen Logik untergeordnet hat. Die Strategie fordert einen immer höheren Preis an Menschenleben. Das Konzept der „vernetzten Sicherheit“ gehört folglich auf den Prüfstand. Wir verlangen, zivile und militärische Aufgaben und Mandate bei der Krisen- und Konfliktbearbeitung wieder klar zu trennen. Die Förderung von Entwicklungsprojekten an die Bereitschaft zu zivil-militärischer Kooperation zu binden, gefährdet gleichermaßen Projekte und Projektträger. Um Afghanistan zu befrieden, ist eine Einbindung der Nachbarstaaten unerlässlich. Ein internationaler Verhandlungsprozess muss Initiativen für regionale Waffenstillstandsvereinbarungen einschließen, um eine Abzugsperspektive glaubhaft mit dem Ziel der Beendigung militärischer Gewalt zu verbinden. Die Bundesregierung sollte sich auf der Petersberg-Konferenz hierfür stark machen.
Das neue Strategische Konzept der NATO zeugt von fehlender Zukunftsfähigkeit. Unter dem Begriff „umfassende Sicherheit“ beansprucht die NATO Zuständigkeit für Bereiche, die in die Entwicklungspolitik und Diplomatie gehören. Die vorgesehene Stationierung eines Raketenabwehrsystems in Europa halten wir für ein falsches Signal. Sie ist ein überflüssiger Stolperstein für die Beziehungen mit Russland und auf dem Weg zu mehr Sicherheit, die sich nur gemeinsam erreichen lässt.
Nachdem die öffentliche Diskussion über den Krieg in Afghanistan endlich Fahrt aufgenommen hat, ist sie auszuweiten auf die künftige Rolle und Gestalt der Bundeswehr. Wir warnen davor, bei der Bundeswehrreform die deutschen Streitkräfte maßgeblich in eine Interventionsarmee umzuformen. Die Entgrenzung der „erweiterten Landes- und Bündnisverteidigung“ darf nicht die Tür zur Selbstermächtigung von Militäreinsätzen und schon gar nicht zu Militäreinsätzen für eine gesicherte Rohstoffversorgung öffnen. Von den gut 6.900 deutschen Soldaten im Ausland sind etwa 350 Soldaten in EU-Einsätze integriert, weniger als 300 Bundeswehrsoldaten kommen in den Stabilisierungsmissionen der UNO zum Einsatz. Die übergroße Mehrheit steht unter dem Kommando der NATO. Die nordatlantische Militärallianz ist jedoch kein Ersatz für die UN-Friedenssicherung. Es scheint also, als sei das Bekenntnis zum Primat der UNO für die Wahrung von Frieden und Sicherheit weltweit, das auch in den neuen Verteidigungspolitischen Richtlinien zu lesen ist, nur Rhetorik. Das muss sich grundlegend ändern. Die Auslandseinsätze der Bundeswehr müssen dazu beitragen, dass die UNO ihre Friedensmissionen effektiviert. Andernfalls nimmt die Glaubwürdigkeit der Weltorganisation Schaden.
Friedensforscher nennen Krieg, was Kriegführende gern schönreden: Operation Enduring Freedom in Afghanistan, Operation New Dawn im Irak oder Operation Unified Protector in Libyen. Weil wir aber nicht Sprachkritik im Elfenbeinturm betreiben, suchen wir die Öffentlichkeit. Wir sind dankbar, dass die Bundespressekonferenz uns dafür erneut ein Forum bietet. Unsere Adressaten sind die politischen Entscheidungsträger, aber genauso die politisch Interessierten und die aktiv Engagierten, die ein wachsames Auge auf die Politik haben und zugleich vielfach zu ihren kritischen Partnern avanciert sind. Wir stellen das Friedensgutachten auch bei Bundestagsabgeordneten sowie in den einschlägigen Ministerien vor und diskutieren es auf öffentlichen Veranstaltungen. Heute Abend sind wir zu Gast im Französischen Dom hier in Berlin, im Juni diskutieren wir unsere Arbeit in Brüssel, unter dem Dach des Europäischen Parlaments.