22 Mai 2012

Friedensgutachten 2012

Vorstellung des Friedensgutachtens am 22. Mai 2012 in Berlin von Bruno Schoch, HSFK
Presseerklärung 2012 Friedensgutachten.de

Globale Machtverschiebungen verlangen nach gemeinsamer Sicherheit und Kooperationsmacht
Vorbei sind die Zeiten unangefochtener Dominanz des Westens. Die aufstrebenden Mächte, für die sich das Kürzel BRICS eingebürgert hat, gewinnen an Einfluss. Die friedenspolitischen Implikationen dieser Verschiebungen stehen im Fokus des diesjährigen Friedensgutachtens.

Kein Nullsummenspiel
Die USA geben für ihr Militär mehr Geld aus als der Rest der Welt zusammen. Sind sie dadurch sicherer geworden? Wir bezweifeln es. Militärische Überlegenheit konnte die Regime in Afghanistan und im Irak stürzen, doch beide Länder bleiben unbefriedet. Von den Kosten ganz zu schweigen. Während die USA zwei Kriege führten und ihr Militärbudget in zehn Jahren auf über 700 Mrd. USD verdoppelten, brachte China seine Wirtschaft voran und hortete Devisen. Dem Aufstieg der BRICS-Staaten korrespondiert der relative Abstieg des Westens – das erzeugt Ängste und nährt alarmistische Stimmen. Sie beschwören eine angeblich unvermeidliche Konfrontation, für die man sich wappnen müsse. Doch es gibt kein Naturgesetz, dem zufolge Machtübergänge zu Kriegen führen. Die Ökonomien des aufsteigenden Ostens und des von der Krise gebeutelten Westens sind so miteinander verflochten, dass Machtverschiebungen kein Nullsummenspiel sind. Aufsteigende Mächte widersetzen sich der Dominanz der alten – ihr antihegemonialer Impuls reicht aus, um aus den politisch und wirtschaftlich heterogenen BRICS-Staaten eine eigene Gruppe zu bilden. Doch verdanken die erfolgreichen unter ihnen den Boom, der in China Millionen aus bitterer Armut befreit hat, der bestehenden Weltwirtschaftsordnung. Warum sollten sie diese beseitigen wollen?
Diesen Zusammenhang verkennt, wer einen neuen System-Antagonismus beschwört. Gewiss erzeugt die Globalisierung überall Unsicherheiten. Doch für das politische System der VR China bedeutet die Öffnung eine ungleich größere Herausforderung. Wir sehen keinen Grund, Abstriche von unseren demokratischen Werten zu machen oder Ängste vor dem wachsenden Einfluss der BRICS-Staaten zu schüren. Wir plädieren vielmehr dafür, dass die BRICS-Staaten mehr internationale Verantwortung übernehmen. Das ist der richtige Kerngedanke im neuen Regierungskonzept zu den „Gestaltungsmächten.“ Er impliziert den Verzicht auf Paternalismus ebenso wie Verlässlichkeit in der Europäischen Union und in der Kooperation mit den USA.

Krise der EU: Führungsverantwortung und Solidarität
Die EU, mit ihrer Krise beschäftigt, ist nicht auf der Höhe der Zeit. Eine Regulierung des gesamten Finanzmarktes ist dringend geboten. Doch die Banken bleiben ungeschoren. Stattdessen wird ganz Europa einem drakonischen Spardiktat unterworfen, das die schwächeren Volkswirtschaften in die Rezession treibt. Wir wiederholen unsere Forderung aus dem letzten Jahr: Die Verpflichtung zur Solidität ist mit europäischer Solidarität zu verknüpfen. Damit die besonders gebeutelten Länder wieder auf die Füße kommen, brauchen wir einen „New Deal für Europa.“ Sonst drohen Europa und der Sozialstaat vollends unter die Räder zu geraten.
Die Euro-Krise drängt das wirtschaftliche Schwergewicht Deutschland in eine europäische Führungsverantwortung. Rufe danach werden lauter, aber zugleich auch Ängste vor einem übermächtigen Berlin. Führungsverantwortung ist etwas anderes als Herrschaft. Sie organisiert den Konsens mit den anderen, indem sie deren Interessen berücksichtigt. Man nennt das Kooperationsmacht. Friedenssicherung nicht durch Machtpolitik, Gleichgewichtsdenken und Aufrüstung, sondern durch Souveränitätsverzicht, Integration und Überwindung alter Feindbilder – diese Erfolgsgeschichte der EU kann ein Vorbild für zivile Kooperationsmacht sein.
Kein Vorbild hingegen gibt die EU beim Thema Einwanderung ab. Renationalisierung und die Abschottung der „Festung Europa“ verhindern Solidarität und widersprechen dem Angebot, mit den Transformationsgesellschaften des Arabischen Frühlings enger zu kooperieren. Erforderlich ist ein Perspektivenwechsel in der europäischen Migrations- und Asylpolitik.

Demokratien können scheitern
Die Machtverschiebungen betreffen nicht nur die zwischenstaatlichen Beziehungen, sondern haben noch eine andere Dimension: die Diffusion von Macht zu nichtstaatlichen Akteuren. Dazu gehören Banken und Rating-Agenturen, transnational organisierte Kriminalität und Terrorismus. Auf ganz andere Weise artikulieren Bürgerbewegungen wie Occupy und Online-Kampagnen Protest gegen den zügellosen Finanzkapitalismus. Die Diffusion von Macht stellt die Steuerungsfähigkeit der Politik in Frage. Mehr als früher befassen wir uns mit den gesellschaftlichen Folgen der Globalisierung. Denn die sich vertiefende Kluft zwischen Arm und Reich nagt an der demokratischen Legitimität, verschärft Ausgrenzung und Rassismus und bedroht den inneren Frieden. „Es geht um eine wirtschaftliche Demokratie“, propagierte einst Roosevelts Economic Bill of Rights. Das erscheint uns durchaus aktuell: Dass Demokratien scheitern können, darf nicht in Vergessenheit geraten.

Endlich neues Denken
Die globalen Machtverschiebungen verlangen neues Denken: Sicherheit ist nicht mehr gegen, sondern nur noch miteinander zu erreichen. Geboten ist deshalb ein neuer Schub für Rüstungskontrolle und Abrüstung. Wir widersprechen der Rüstungslobby, die mehr Rüstungsexporte verlangt – das Panzergeschäft mit Saudi-Arabien ist ein fatales Signal. Der friedenspolitisch richtige Weg lautet: Konversion. Da Kleinwaffen weltweit am meisten Todesopfer fordern, schlagen wir vor, den Export des G36-Gewehrs und der Maschinenpistole MP5 – und auch den Verkauf von Lizenzen zu deren Herstellung – zu unterbinden.
Anlass zur Sorge gibt die Ausweitung des Drohnen-Krieges. Diese Hightech-Waffen machen den Krieg unsichtbar und billiger, minimieren eigene Todesopfer und senken so die Hemmschwelle zum Griff nach militärischer Gewalt. Gezielte Tötungen von Verdächtigen verstärken den irregulären Charakter des Krieges und weiten die Grauzone aus, in der die Drohnen zum Einsatz kommen. Zudem löst der Run auf Drohnen neues Wettrüsten aus. Wir fordern die Bundesregierung auf, sich für die Aufnahme bewaffneter Drohnen als eigenständige Kategorie in das UN-Waffenregister einzusetzen und mittels Rüstungskontrolle auf ihre Ächtung zu drängen.

Grenzen des Interventionismus
Um Völkermord und Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und „ethnische Säuberungen“ zu unterbinden, hat sich die UN-Vollversammlung zum Prinzip der Responsibility to Protect (R2P) – notfalls mit dem allerletzten Mittel der Intervention – bekannt. Dagegen steht das Kriegsverbot der UN-Charta. Damit es nicht aufgeweicht wird, bemüht sich der UN-Generalsekretär, Kriterien zu entwickeln, die es gestatten, die Prinzipien Friedenspflicht und Schutzverantwortung in der Praxis zu versöhnen. Deutschland sollte Ban Ki Moon dabei unterstützen.
Seit Monaten reißen beklemmende Berichte über die Massaker in Syrien nicht ab, sie haben bereits 10.000 Todesopfer gefordert. Eine Militärintervention schließt der Westen aus – aus guten Gründen. Sollte auch die Vermittlungsinitiative von Kofi Annan scheitern, verweisen wir auf die Erfahrungen im Libanon. Dort einigten sich nach einem 15 Jahre währenden Bürgerkrieg, der 100.000 Todesopfer kostete und den keine Seite gewinnen konnte, die Antagonisten 1990 auf ein Friedensabkommen. Mit der Formel „Keine Sieger, keine Besiegten“ wurde eine Teilung der Macht möglich – gewiss eine prekäre Balance. Wäre ein „schmutziger Frieden“ nicht auch in Syrien einem endlosen Bürgerkrieg vorzuziehen? Ungeachtet dessen muss die Staatengemeinschaft in Syrien humanitäre Hilfe leisten und die Nachbarstaaten bei der Unterbringung und Versorgung der Flüchtlinge unterstützen.
Israelische Regierungsmitglieder kündigen seit Monaten an, man werde Irans Nuklearprogramm mit Luftschlägen stoppen. Das wäre völkerrechtswidrig. Damit könnte man zudem Teherans Atomprogramm zwar verlangsamen, aber nicht stoppen – im schlechtesten Fall würde es sogar beschleunigt. Es gibt keine Alternative zur Diplomatie. Wir schlagen vor, die Forderung fallenzulassen, Iran müsse die Urananreicherung aussetzen. Teheran ist aber die Ratifikation und Anwendung des Zusatzprotokolls der IAEO abzuverlangen, das umfassende Kontroll- und Inspektionsrechte beinhaltet. Eine Strategie der Deeskalation muss Sicherheitsgarantien für Israel und Iran enthalten und sie mit der Perspektive einer atomwaffenfreien Zone im Nahen und Mittleren Osten verbinden.
In der zusammenwachsenden Welt des 21. Jahrhunderts brauchen wir keine Nuklearwaffen, sondern umgekehrt glaubwürdige Schritte in Richtung Global Zero. Die aktuellen internationalen Machtverschiebungen bergen auch friedenspolitische Chancen. Es wäre fatal, diese durch falsche Weichenstellungen zu verpassen.

Verantwortlich für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit:
Dr. Christiane Fröhlich