14 Juni 2005

Friedensgutachtens 2005

Ulrich Ratsch, FEST, am 14. Juni 2005 vor der Bundespressekonferenz
Forschungsstätte der EvangelischenStudiengemeinschaft e. V.Institut für interdisziplinäre ForschungProtestant Institutefor Interdisciplinary Research

Friedensprozesse brauchen einen langen Atem

Es ist eine Fehleinschätzung, Frieden könne, wo Gewalt herrscht, durch Krieg schnell herbeigeführt werden.

Der Krieg in Afghanistan ist so wenig zu Ende wie der im Irak. Bis dortdie Bürger in Sicherheit leben können und eine nachhaltige sozial-ökonomische Entwicklung Fuß fasst, werden Jahre vergehen.
Wir verkennen keineswegs die Fortschritte, die in einigen Ländern erzielt wurden. Das diesjährige Friedensgutachten ist von der Frage nach den dabei verfolgten Deeskalationsstrategien geleitet.

Es gibt erfolgreiche wie missglückte:

· In Afghanistan sind zwar politische Stabilisierung und Demokratisierung, auch mit Hilfe der ISAF-Truppen, vorangekommen und im Norden gibt es Ansätze einer wirtschaftlichen
Entwicklung außerhalb der Drogenökonomie. Aber im Süden und Osten Afghanistans wird weiterhin gekämpft, verfolgt Enduring Freedom im Kampf gegen die Taliban häufig kontraproduktive Strategien. Bündnisse mit lokalen warlords behindern Demobilisierung und zivilen Aufbau. In dieser Zwickmühle unterschiedlicher Mandate bewegt sich auch die Bundeswehr in Kundus und Faisabad. Entwicklung und Sicherheit scheinen kaum vereinbar. Eine Evaluierung der zivil-militärischen Einsätze ist deshalb dringlich.

· Im Irak haben Wählerinnen und Wähler eindrucksvoll ihren Willen zur Demokratie unter Beweis gestellt. Die Übergangsverfassung ist eine der demokratischsten in der islamischen Welt. Doch die Gewaltspirale aus Besatzung und Terror forderte allein im Mai einen Blutzoll von über 700 Toten und Tausenden Verletzten. Die Zusammenarbeit zwischen al-Qaida und Anhängern des Saddam-Regimes, die Washington einst als Kriegsgrund behauptet hatte, existiert heute als Folge des Krieges und der Besatzung.

Die irakische Regierung kann Erfolge in der Bekämpfung terroristischer Gewalttäter
verzeichnen, auch wenn sie dabei noch die Hilfe der Besatzungstruppen braucht. Die amerikanische Regierung scheint zu lernen, dass militärische Mittel für die notwendige Partizipation aller Gruppen – Schiiten, Sunniten und Kurden - wenig geeignet sind. Wir begrüßen die von der EU und den USA geplante Konferenz zum Wiederaufbau im Irak – sie kann auch ein Signal für die dringend gebotene zivile transatlantische Kooperation für den Mittleren Osten sein.

· Die neue Hoffnung in Palästina ist noch nicht wieder verflogen. Die Spirale der Gewalt dreht sich langsamer. Die demokratische Wahl von Mahmud Abbas und der Gaza-Abzugsplan werden von der jeweils gegnerischen Seite als Signale dafür aufgenommen, dass Verhandlungen nicht mehr unmöglich scheinen. Dafür muss deutsche Außenpolitik ihren konstruktiven Einfluss auf beiden Seiten einbringen.

· Positiv bewerten wir die Deeskalation des Kaschmirkonflikts. Im Dialog zwischen Indien und Pakistan wurde das Grenzregime gelockert, beide Seiten verzichten auf Atomtests und vereinbaren beträchtliche Truppenreduktionen.

Die Staatengemeinschaft darf nicht tatenlos zusehen bei Völkermord, schweren Menschenrechtsverletzungen, Vertreibungen und ethnischen Säuberungen.

Die Beschwörung "Ruanda darf sich nicht wiederholen„ hat sich im Falle Darfurs als Phrase erwiesen, nicht nur weil China im Sicherheitsrat blockierte. Es dauerte viel zu lange, bis eine militärische Mission der Afrikanischen Union (AU) entsandt wurde. Mit derzeit 3200 Soldaten kann sie indes der Zivilbevölkerung nur minimalen Schutz gewähren. Auf Bitten der AU gewährte logistische Hilfe der NATO wird jetzt gemeinsam mit der EU auf den Weg gebracht. Zur Unterdrückung akuter Gewalt müssen die Truppen der AU verdoppelt werden, daneben braucht es massiven Einsatz für den zivilen Wiederaufbau, beides bedarf finanzieller Hilfe der EU.
Außerdem ist der internationale Druck auf die Regierung in Khartum zu verstärken, damit sie den Djanjawid-Milizen ihre Unterstützung entzieht. Dafür erwarten wir von der Bundesregierung, im Zusammenspiel mit der EU, politische Initiativen.

Wir begrüßen die von Kofi Annan eingeleiteten Schritte zur UN-Reform. Allerdings scheint für Berlin das Streben nach einem permanenten Sitz Deutschlands im Sicherheitsrat die Debatte um die UN-Reform zu beherrschen. Wir halten es für wichtiger, sich für die vorgeschlagene Stärkung der friedenskonsolidierenden Kapazität der UNO einzusetzen: Die Einrichtung einer Peace Building Commission und eines entsprechenden Koordinierungsbüros bei der UNO, sowie eines Menschenrechtsrats an Stelle der bisherigen Menschenrechtskommission.

Konfliktbewältigung darf nicht erst einsetzen, wenn die Waffen sprechen.

Vor dem Ausbruch offener Gewalt muss durch verbesserte Früherkennung und diplomatische Interventionen deeskalierend eingegriffen werden. Es war richtig, dass die Bundesregierung dazu den Aktionsplan Zivile Krisenprävention beschlossen hat. Er muss aber finanziell deutlich besser ausgestattet und die Koordinierungsprobleme der Ressorts müssen beseitigt werden. Besonders wichtig ist, in Nachkriegssituationen dafür zu sorgen, dass militärische Gewalt nicht erneut aufflammt. Es gibt doppelt soviel gescheiterte wie gelungene Konfliktbeilegungen.

Militärische Präsenz UN-mandatierter Truppen kann notwendig sein, um eine Waffenruhe zu sichern. Parallel dazu muss jedoch die Basis für längerfristige Stabilität durch zivilen Wiederaufbau gesichert werden. Militärische und zivile Missionen können sich ergänzen, sollten aber mit einer klaren Aufgabentrennung versehen sein. Das Gute an der vorgeschlagenen Peace Building Commission ist gerade, dass sie die häufig mangelhafte Koordination zwischen zivilen und militärischen Missionen, aber auch zwischen den verschiedenen zivilen Akteuren verbessern soll.

Wir bekräftigen unsere Position, dass die Erhöhung der deutschen Entwicklungszusammenarbeit auf 0,7% des BSP das Minimum ist, um längerfristig wirksame Maßnahmen zur Krisenprävention ernsthaft auf den Weg zu bringen.
Armut, soziale Ungerechtigkeit und Perspektivlosigkeit erschweren Demokratisierung und bilden oft den Nährboden für Gewalt.

Der Bericht „Eine sicherere Welt„ der Hochrangigen Beratungsgruppe Kofi Annans benennt als erste von sechs Bedrohungen des Friedens die sozio-ökonomischen Verwerfungen der Globalisierung.

Es ist ein Skandal, dass die weltweiten Rüstungsausgaben wieder nahezu den Stand wie zur Hochzeit des Kalten Krieges erreicht haben, mit einem Anteil der USA von über 45 %.

Die Investitionen in die menschliche Entwicklung hingegen stagnieren.

Konversionsmaßnahmen wie die Demobilisierung von Kriegsparteien, Entwaffnung von Milizen
und Reintegration von Exkombattanten in die zivile Wirtschaft sind Komponenten sozio-ökonomischer Entwicklung ebenso wie gezielte Maßnahmen gegen Korruption.

Die Ansätze westlicher Staaten zur Demokratisierung im Nahen und Mittleren Osten wären glaubwürdiger, wenn ihr Handeln nicht so oft von Doppelmoral gekennzeichnet wäre:

· Die USA, die um des vorgeblichen Schutzes der Menschenrechte willen Kriege beginnen,
verletzen die Menschenrechte in ihren Häftlingslagern aufs Gröbste: Abu Ghraib,
Guantánamo und Bagram sind dunkle Kapitel, die Aufklärung und Rechenschaft verlangen.

· Aber auch die Duldung von Menschenrechtsverletzungen in Usbekistan und Tschetschenien
durch westliche Staaten, auch durch Deutschland, offenbaren doppelte Standards beim Umgang mit Gewalttätern. Das Willkürregime Russlands in Tschetschenien ist keine „innere Angelegenheit„. Von einer künftigen Bundesregierung erwarten wir, derartige Menschenrechtsverletzungen mit der nötigen Deutlichkeit zu kritisieren.

· Der Vorschlag aus Berlin und Paris, das EU-Rüstungsembargo gegen China aufzuheben,
während Chinas Säbelrasseln gegen Taiwan die Spannungen in Ostasien drastisch erhöhte, desavouiert die Rhetorik zur Menschenrechtspolitik und zur internationalen Rüstungskontrolle.

Die europäische Einigung begreifen wir nach wie vor als großes Friedensprojekt. Das Bewusstsein dieser historischen Errungenschaft darf nicht verloren gehen. Doch sollte die Ablehnung des europäischen Verfassungsvertrags in Frankreich und in den Niederlanden
als Chance genutzt werden:
Die Kritik der EU-Bürger an dem Elitenprojekt und an dem damit verbundenen Demokratieverlust muss ernst genommen werden. Das gilt für die sozialen und ökonomischen Prozesse in der EU ebenso wie für die Außen- und Sicherheitspolitik.

Wir plädieren dafür, dass die im Verfassungsvertrag enthaltenen Gefahren eines militärischen Übergewichts in den friedens- und sicherheitspolitischen Aussagen zu Gunsten einer Stärkung der Zivilmachtpositionen der EU behoben werden.

Der Bundeswehr, obgleich gerade 50 geworden, fehlt immer noch die nötige Klarheit über ihren Auftrag. „Heimatschutz„ und „Regionalkriege zur Verteidigung europäischer Interessen„ sind Stichworte der aktuellen Sicherheitsdebatte, die mehr Fragen aufwerfen als beantworten.

Sie liegen quer zur Verfassung der Bundesrepublik. Wehrpflichtige werden für die künftigen Aufgaben nicht mehr gebraucht, auch nicht jedes neue Rüstungssystem, das die Bundeswehr anschafft. Besorgt macht, dass der gerade erzielte Konsens über das Mitwirkungsrecht des Bundestages bei Auslandseinsätzen deutscher Soldaten schon wieder bröckelt.

Der Grundsatz der Parlamentsarmee darf nicht in Frage stehen.

Das Scheitern der NVV-Überprüfungskonferenz im Mai 2005 ist fatal.

Wir kritisieren, dass die einzige verbliebene Supermacht andere Staaten auf Nichtverbreitung
von Kernwaffen verpflichten will, während sie gleichzeitig ihre eigene Nuklearmacht ausbaut
und sich weigert, den Vertrag für einen umfassenden Teststop CTBT zu ratifizieren und so
verhindert, dass er in Kraft tritt. Die USA trugen maßgeblich zum Scheitern der NVV-Überprüfungskonferenz bei.

Darüber hinaus treiben sie das Wettrüsten an, sowohl im Weltraum als auch bei den Nuklearwaffen. Wenn Kernwaffen eine solch prominente Rolle für die Sicherheit der USA spielen sollen, verwundert es nicht, dass andere Staaten diesem Beispiel folgen wollen. Damit wird das Tor aufgestoßen zu einer neuen Aufrüstungsrunde - und zwar in den konfliktreichsten Regionen der Welt.
Irans nukleare Ambitionen müssen durch Verhandlungen beseitigt werden. Wir wiederholen die Forderung, dies in eine Denuklearisiserung und ein Rüstungskontrollregime für den gesamten Nahen und Mittleren Osten einzubetten, also auch aller dort operierenden amerikanischen Einheiten und Israels.

Wer glaubt, nukleare Abschreckung könnte dort den Frieden sichern, und wer sich einredet,
so bleibe Terroristen der Zugang zu Massenvernichtungswaffen verwehrt, erliegt einer gefährlichen Illusion.

Wir warnen entschieden vor einer verhängnisvollen Entwicklung, die uns schneller, als wir uns vorstellen können, in die Risiken der nuklearen Apokalypse zurückführen könnte. Wir begrüßen deshalb das Engagement Deutschlands, den NVV nicht scheitern zu lassen, ebenso wie Vorstöße, die darauf zielen, alle verbliebenen Nuklearwaffen aus Deutschland zu entfernen.

Wie in den beiden letzten Jahren, haben wir das Friedensgutachten gestern dem Präsidenten
des Deutschen Bundestages, Wolfgang Thierse, überreicht. Neu ist in diesem Jahr, dass wir
mit Vorsitzenden und Mitgliedern von Bundestagsausschüssen zusammentreffen, um über die
Aussagen des Gutachtens zu sprechen.

Dieser Dialog soll in Zukunft intensiviert werden.


Quelle: http://www.friedensgutachten.de