04 Juni 2003

Friedensgutachten 2003

Vorstellung des Friedensgutachtens am 4. Juni 2003 von Corinna Hauswedell, BICC
Pressemitteilung Friedensgutachten.de

Die neue Weltordnung verträgt keine Militarisierung

Der Angriffskrieg gegen den Irak und seine Inszenierung durch die neokonservative Administration des US-Präsidenten George W. Bush haben die Weltöffentlichkeit aufgebracht und die internationalen Beziehungen nachhaltig erschüttert. Es scheint, als gerate gut zehn Jahre nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes auch die westliche Welt aus den Fugen. Dass die „neue Weltordnung“ durch unilaterale Feldzüge der einzig verbliebenen Supermacht. gegen missliebige Regimes erstritten werden soll, ist verstörend, auch in den Augen der Friedensforschung. Ein Grundpfeiler des Völkerrechts, das in Art. 2 der UN-Charta festgelegte Gewaltverbot, wurde gravierend beschädigt.
Die im September 2002 offiziell vorgelegte Nationale Sicherheitsstrategie der USA deutet das Recht auf Selbstverteidigung um in ein präventives militärisches Vorgehen „auf Verdacht“: gegen sogenannte „Schurkenstaaten“ und Terroristen und deren vermeintlichen Besitz von Massenvernichtungswaffen. Ein gigantisches Rüstungsprogramm, das schon jetzt 40 % der Weltmilitärausgaben ausmacht, soll diese Strategie absichern. Wir halten dies für eine gefährliche Hypertrophie der nach dem Kalten Krieg entstandenen politischen Machtasymmetrien.
Militarisierung, selektive Bedrohungsanalysen und Feindbildprojektionen verstärken das ohnehin wachsende globale Gefühl der Verunsicherung statt ein Vertrauen zu schaffen, das für die Lösung heutiger Gefährdungen und Konfliktpotentiale dringend geboten wäre. Dass dafür unter Umständen auch Atomwaffen eingesetzt werden sollen, deren Weiterverbreitung man doch unterbinden will, erhöht nicht die Glaubwürdigkeit der Führungsmacht, die militärische Sicherheit zum Exportartikel Nr.1 erklärt hat.
Die Unpopularität dieser Politik muss einem demokratischen Staat wie den USA zu denken geben. Ein Rechtsbruch wie im Falle des Irak, wo mit wechselnden Begründungen und ohne völkerrechtliche Legitimation ein Krieg in Szene gesetzt wurde, darf sich nicht wiederholen. Alle Staaten sind aufgerufen, das ihnen Mögliche zu tun, um Art.2, Abs.4 der UN-Charta wieder Beachtung zu verschaffen. Präemptiver Kriegführung ist eine klare Absage zu erteilen.
Die neue Sicherheitspolitik der USA stärkt das Militär auf Kosten der Diplomatie und läuft den internationalen Bemühungen um Rüstungskontrolle, insbesondere um die Einhaltung der Nichtverbreitungsregime, zuwider. Damit stellt sie nicht nur für das Völkerrecht, sondern auch für alle Anstrengungen zu kooperativer und ziviler Konfliktbearbeitung, Rüstungskontrolle und Abrüstung eine immense Herausforderung dar. Es steht zu befürchten, dass die Rückkehr zum Krieg als gewöhnlichem Mittel der Politik eine neue Dynamik der Rüstungen hervorbringt. Schlechte Beispiele machen Schule. Wer Macht und Sicherheit vorrangig militärisch definiert, wird ziviler Konfliktprävention und -bearbeitung den ideellen und materiellen Boden entziehen. Eine Militarisierung zwischenstaatlicher Beziehungen und innergesellschaftlicher Verhältnisse gefährdet die Glaubwürdigkeit der Demokratie und die Verteidigung von Menschenrechten.
Historische Erfahrung zeigt allerdings, dass jede Form von Dominanz und Hegemonie auch ihre Gegentendenzen hervorbringt. Andere Staaten und Regionen, Russland, China, möglicherweise Indien oder Lateinamerika werden versuchen sich neu zu platzieren. Obgleich manches darauf hindeutet, dass der Wandel dauerhafter sein könnte, wollen wir nicht ausschließen, dass die USA im nächsten Jahrzehnt zu einer kooperativeren Politik zurück kehren. Unipolarität ist kein ehernes Gesetz.
Das diesjährige Friedensgutachten und seine Einzelbeiträge stehen unter dem Leitthema Kooperation oder Konfrontation. Es ist ein ernsthaftes Problem, dass die Vorstellungen von Sicherheit und was diese bedroht in den USA und Europa auseinander gehen. Die Zukunft der NATO ist ungewiss. Angesichts der transatlantischen Turbulenzen haben sich die Herausgeber in ihrer Stellungnahme dieses Mal zu einer engen Fokussierung entschlossen. Wir konzentrieren uns ganz auf die Optionen und Alternativen, die Europa vor dem doppelten Hintergrund seiner kriegerischen Geschichte und seiner Erfahrungen mit Kooperation und Integration einbringen kann: Geduld, Bereitschaft zu Ambivalenzen, soft power und vor allem Multilateralismus.
Wir wollen mit diesem Friedensgutachten beitragen zu einer grundlegenden und streitbaren internationalen Debatte über die Ordnungsvorstellungen in der Welt. Noch tun sich die EU-Staaten, mitten in einer historischen Erweiterungsphase, schwer in der Formulierung und Umsetzung einer kohärenten Außen- und Sicherheitspolitik. In der Irakkrise wurden jedoch auch Konturen einer europäisch diskutierenden politischen Öffentlichkeit sichtbar. Ansatzpunkte, um einen gemeinsamen europäischen Willen zu schärfen, sehen wir auf folgenden Feldern:
Die komplexen Phänomene der Globalisierung, ihre Licht- und vor allem ihre Schattenseiten, verweisen auf ein neues, umfassenderes Konzept von Sicherheit, das unter dem Stichwort von human security gegenwärtig in vielen internationalen Organisationen und im Kontext verschiedener Weltkonferenzen diskutiert wird: Sicherheit und Entwicklung muss zusammen gedacht werden. Die Begrenztheit fossiler Ressourcen, Technikentwicklung, Klimawandel, Armut und ökonomisches Nord-Süd-Gefälle, Epidemien, kurz alle Risiken, welche die Lebens- und Entwicklungschancen beeinträchtigen können, müssen gleichrangig behandelt werden; dazu gehört auch der Schutz vor physischer Bedrohung durch Terror und Gewalt. Kollektive Güter bedürfen kooperativer Anstrengungen und Prioritätensetzungen in multilateralen Zusammenhängen. Weichenstellungen hierfür finden in den UN, dem IWF, der Weltbank und der WTO statt, hier müssen gemeinsame EU-Position eingebracht werden. Das kann bedeuten, Gegenpositionen zu den USA einzunehmen, wenn die Interessenlagen differieren. Auch in der Vergangenheit war es richtig, internationale Vereinbarungen und Regelungen zu treffen, obwohl sich einzelne Staaten einer Mitarbeit vorläufig verweigerten. Selbst wenn globale Lösungsstrategien schwächer ausfallen, wenn nicht alle mitmachen, werden die Prinzipien und Institutionen internationaler Zusammenarbeit gestärkt. Die internationale Landminen-Konvention von 1997, inzwischen von mehr als 130 Staaten unterzeichnet, ist ein erfreuliches Beispiel, der Internationale Strafgerichtshof ein anderes.
Gegen die meisten Gefährdungen menschlicher Sicherheit sind militärische Mittel kontraproduktiv oder helfen nur sehr begrenzt. Erfolgreicher Kampf gegen transnationalen Terrorismus beruhte bisher vor allem auf intensivierter polizeilicher und geheimdienstlicher, grenzüberschreitender Kooperation. Der Bedrohung durch MVW wird man nicht durch Conterproliferation beikommen, sondern nur durch verschärfte Anstrengungen zur Kontrolle und Beseitigung der vorhandenen chemischen und atomaren Bestände. Neue Initiativen im Vorfeld der Überprüfung des Nichtverbreitungsvertrages im Jahre 2005 sind dringlich. Bestehende Regimeelemente wie die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) und die Exportkontrolle müssen gestärkt werden. Insbesondere im Biowaffen-Bereich müssen neue Initiativen für Beschränkungen und Kontrollen gefunden werden. Das ist zwar schwierig, weil die USA Verifikation „auf gleicher Augenhöhe“ blockieren, aber Kompromisslösungen müssen gesucht werden, z.B. durch eine stärkere Gewichtung von Verdachtsinspektionen gegenüber Routineinspektionen und die Stärkung der Kontrolle von Know-how-Erzeugung und -verbreitung. Wir werden es nicht zulassen, dass Abrüstung, wie im Falle des Irak geschehen, als politisches Ziel diskreditiert wird. Gegenüber Iran und Nordkorea plädieren wir energisch für eine Verstärkung diplomatischer und entspannungspolitischer Bemühungen.
Prävention und zivile Bearbeitung gewaltträchtiger Konflikte verfügen inzwischen über einen reiches Arsenal an deeskalatorischen und vertrauensbildenden Instrumenten. Dazu gehören: Dialog- und Integrationsbereitschaft auch gegenüber radikalen Konfliktparteien, Kooperation im regionalen Kontext des Konfliktes, Einbeziehung der Zivilgesellschaft sowie integrer Drittparteien als Vermittler. Am Beispiel Südostasiens oder Kolumbiens analysieren wir negative Effekte eines militärisch verengten Anti-Terrorkampfes für die dortigen Konfliktkonstellationen. Beim schwierigen Wiederaufbau Afghanistans, der u.a. die Reform des Sicherheitssektors, den Aufbau von Polizei und Justiz, Bildung und Gesundheitsvorsorge umfasst, muss der multilaterale Politikansatz gestärkt, müssen die militärischen Operationen, die ihn konterkarieren, beendet werden. Deutschland spielt hier eine anerkannte Rolle, die ausgebaut und finanziell gestärkt werden muss.
Zu den nichtmilitärischen Instrumenten internationaler Friedenssicherung gehören auch eine intelligente Sanktionspolitik und die Weiterentwicklung des Völkerrechts. Die EU muss sich für eine Effektivierung der in Kapitel XIV der UN-Charta vorgesehenen internationalen Gerichtsbarkeit einsetzen. Wir empfehlen, die Stellung von Individuen im Völkerecht zu stärken, durch Ausweitung des Individualbeschwerdeverfahrens im Rahmen des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (Sozialpakt), durch Verbesserung der völkerrechtlichen Stellung von NGOs und durch Initiativen für eine UN-Konvention zur politischen Verantwortung von Wirtschaftsunternehmen. Entschiedene Maßnahmen zur Eindämmung des illegalen Handels mit Waffen oder Rohstoffen sind unerlässlich, um Kriegsökonomien, die vor allem in vielen Ländern Afrikas zur sich selbst finanzierenden Gewaltquelle geworden sind, auszutrocknen.

Der Zivilmacht EU wächst auf diesen Gebieten eine große Verantwortung zu, die gemeinsam mit anderen Staaten – möglichst auch weiterhin im transatlantischen Verbund – umgesetzt werden muss. Stabilitätsexport durch soft power, durch politische und ökonomische Attraktivität, wie auf dem Balkan erfolgreich praktiziert und mit der Osterweiterung und auch gegenüber der Türkei vorgesehen, sollte durch eine ziel- und bedarfsgerechte ESVP ergänzt werden. Davon sind wir angesichts nationaler Interessendefinitionen noch weit entfernt. In Deutschland sollten die neuen verteidigungspolitischen Richtlinien für eine überfällige öffentliche und auf demokratische Legitimierung zielende Debatte über Rolle und Aufgaben der Streitkräfte genutzt werden.
Wir sind der Meinung, dass weder die alten noch die neuen Argumente, die Staaten der EU müssten angesichts neuer Bedrohungen ihre militärischen Kapazitäten drastisch erhöhen, überzeugen. Die EU hat weder zu wenig Militär, noch gibt sie zu wenig dafür aus. Nur im Vergleich mit dem transatlantischen Bündnispartner sind die EU-Staaten ein militärischer Zwerg – gemessen an allen anderen sind sie mit 160 Mrd. Euro Verteidigungsausgaben und 1,8 Mio. Soldaten ein Riese. Eine von finanziellen Restriktionen vorgegebene Beschränkung an Waffen und Ausstattung hat auch den Vorteil, dass sie dazu zwingt, in Zukunft europäischer zu denken und die Kräfte zu bündeln.
Im Ringen um Frieden im Nahen und Mittleren Osten müssen sich nach dem Irak-Krieg multilaterale, kooperative Friedensbemühungen bewähren. Konkret schlagen wir u.a. vor, dass die EU-Staaten auf zwei Ebenen initiativ werden:
Als Hilfe für die palästinensische Staatsbildung und zur Umsetzung der Road Map sollten internationale Garantien mit der Durchsetzungsmacht einer multinationalen Truppe angeboten werden. Allein kann Europa dies nicht leisten. Aber warum sollte die EU nicht vorschlagen, gemeinsam mit anderen Staaten des Quartetts die israelische Armee in den besetzten Gebieten zu ersetzen?
Es ist an der Zeit, die Überlegungen für ein umfassenderes Konzept von Vertrauensbildung, Rüstungskontrolle und Entmilitarisierung für die gesamte Region, wie sie nach der Madrider Konferenz zwischen 1991 und 1995 zwischen arabischen Staaten, Israel und den Palästinensern begonnen wurden, auf eine neue Basis zu stellen.
Mit Blick auf diese Region und darüber hinaus gehenden Ordnungsvorstellungen halten wir fest: Es ist eine altem Kolonialdünkel verhaftete Legende, der Islam als solcher sei mit Demokratie nicht vereinbar. Gerade wer Krieg als legitimes Mittel für Regimewechsel und Demokratisierung ablehnt, muss die zivilen Bemühungen für die Einhaltung von Menschenrechten, Öffentlichkeit und Partizipation auch in der arabischen Welt entschieden verstärken. Soft power kann sich hier bewähren.